Samstag, 29. April 2017

Irrwitzig verrückt

Seit Monaten eine blanke Seite im Moleskine. Die Schreibbohéme in der Schreibblockade? Oder die Ruhe vor dem Sturm?
Am 7. Mai ist Einsendeschluss vom FM4 Wortlaut. dem einzigen Schreibwettbewerb bei dem ich seit über zehn Jahren tapfer Jahr für Jahr geniale Geschichten einschicke und mir alljährlich die Watsche des Nicht-Beachtens abhole. Ja, auch dieses Jahr schreibe ich wieder fleißig. "Grell" ist das Thema. Falls die ehemaligen Wortlaut-Gewinner und Longlist-Schaffer noch mitlesen - Schöne Grüße an dieser Stelle!
Wäre doch gelacht, wenn es dieses Jahr nicht mindestens ein Schreiber/Mitleser der Schreibbohéme in die Top 10 schafft!
Sehr gerne würde ich Euch jetzt meinen 17er Text posten, aber dann wär ich ja disqualifiziert. Also poste ich etwas ganz anderes und hoffe, Ihr habt trotzdem Spaß beim Lesen: 

Irrwitzig verrückt

Ein halbverrückter, exotischer Schluckauf befällt mich. Es ist gar kein richtiger Schluckauf, weil er sich nur einmal in einer halben Stunde bemerkbar macht, dafür aber um so lauter. Die ganzen Leute in der Pizzeria schauen mich an, als hätte ich gerade einen epileptischen Anfall erlitten. Jeden Moment ruft jeder "Ist hier ein Arzt?" Aber ich lebe noch und ich habe noch eine gute halbe Stunde um aus dem Lokal zu flüchten, bevor wirklich jemand den Arzt holt.
Die feine Gesellschaft verabschiedet sich. Zwei Glaserl Wein sind genug für einen Samstag Abend und alle gähnen und freuen sich aufs Bett. Soll mir Recht sein, ich hab mir längst genug Mut angetrunken, um den Samstag zu erobern.
Weil ich fürchte, dass es sich die anderen doch noch überlegen und mich begleiten, laufe ich auf einmal davon. Hoch die Treppen vom Stadtberg. Es ist kälter als gedacht und der Optimist kleidet sich immer zehn Grad kühler als es tatsächlich ist. Am Stadtplatz ist die Hölle los. Tausende Menschen rauchen vor den Lokalen und ich muss dringend pinkeln. Da der Stadtplatz ein in sich geschlossenes Häuserensemble ist, gibt es weit und breit kein Flecken Natur, wo man ohne schlechtes Gewissen bieseln könnte. Weil die Leute schon schauen, warum ich so ungeduldig schaue, laufe ich den Stadtberg wieder runter in Richtung Au und biesle einfach am Parkplatz vor dem Reformhaus. Ist doch sowieso alles Öko, da wird sich schon keiner aufregen. Es ist immer spannend, im Schnee zu pinkeln. Weil es a) so schön dampft und es b) physikalisch faszinierend ist, wie das Eis erst langsam, dann immer schneller dahinschmelzt und man sein Urin wie einen Stempel gelb in den Schnee drückt. Amerikanische Forscher haben in Brasilien einmal Beton in einen Ameisenbau gespritzt, den dann ausgegraben und anhand der riesigen Betonkonstruktion in der Erde wahnsinnig interessante Dinge über die Ameisen herausgefunden. Man sollte eigentlich auch die gefrorenen Pinkellöcher aus dem Eis ausgraben, um anhand der verwendeten Muster den Charakter des Bieselnden zu analysieren. Meine Technik ist die, dass ich ein möglichst tiefes Loch in den Schnee biesle. Mit Namen Pinkeln hab ichs nicht so. Das Problem beim Wildbieseln ist noch das Bedürfnis, sich die Hände zu waschen. Es ist komisch, dass man das auf einem normalen WC nie hat, nur immer dann, wenn mans nicht kann. Jetzt aber weiter.
Der Eintritt ist teuer, die Musik ist laut und der Club verraucht. Es ist Wochenende. Montag bis Donnerstag Büro, Freitag bis Sonntag Boheme. Der Club wird von einer angenehmen Mischung aus jungen wilden Leuten und reiferen, jung gebliebenen Langhaarigen besucht. Man kommt sich dort nicht ganz so alt vor wie in den angesagten Clubs, wo sich selbst die jungen meist alt fühlen. Mich wundert es dann immer, wo der vielzitierte Jugendwahn geblieben ist, oder warum er nicht dorthin geht, wo es wirklich hip ist, sondern die ergrauten Jugendwahnsinnigen stur in die selben Clubs und Kneipen gehen, in die sie schon seit zwanzig Jahren gehen. Genau so ist es hier. Die Musik ist jung und darum sind auch die jungen wilden allesamt gekommen. Aber das Stammpublikum aus den Neunziger Jahren ist ebenfalls gekommen. Was sollen sie auch woanders hingehen, es ist Samstag.
Vielleicht kann man genau so das Erwachsenwerden definieren: In jungen Jahren schaut man sich die Konzerte aus der ersten Reihe aus an und hat nur Augen für die Bands und kreischt ab und an kurz vor der Ohnmacht. In den wilden Jahren ist man ganz vorne, genau in der Mitte vor der Bühne und tanzt wie ein verrückter. Je älter man dann wird, desto weiter hinten platziert man sich, desto weniger tanzt man aufgrund Ischias und Bandscheiben und so. Ganz am Schluss steht man nicht einmal mehr in der Mitte, sondern links oder rechts seitlich der Bühne, je nachdem wo die Pilsbar aufgestellt ist. Ich gehe auch schnurstracks an die Bar und hole mir einen Cuba Libre und das war dann auch die genau richtige Entscheidung!

Da steht sie, als wartet sie auf mich. Sie schaut mich an, als kennt sie mich und sie schaut genau so aus, wie ich sie mir immer vorgestellt habe. Diese Ausgeburt von Utopia. Wieso schaut sie so süß, warum trägt die genau das Kleid, das mich wahnsinnig macht und das so kurz ist, dass man ihre Arme sieht und an den Armen merkt man sowieso, ob jemand jetzt wirklich attraktiv ist, oder auch nicht. Über ihrer Brust trägt sie ein goldenes Medaillon, verdammt, muss sie denn alles richtig machen? Oder mag ich das Medaillon einfach deshalb, weil sie es trägt? Na klar, die Augen. Die Augen sowieso. Die sehen mich ja an, als wüsste sie, dass ich der Augentyp bin, der auf Augen steht. Sie hat ein ewig junges Mädchengesicht, das sicher in zehn Jahren keinen Millimeter anders aussieht, auch wenn sie dann zwar noch jung aber kein Mädchen mehr ist. 
Wir reden sofort, als sei es eine Selbstverständlichkeit, über die Gefahren des Internets und dass wir gegen unsere Eltern sowieso nicht mehr rebellieren können. Ich rede überhaupt viel und komme furchtbar gescheit vor, weil ich seit Tagen wie ein Besessener Bücher lese und mein Gehirn zudröhne mit Wissen bis es platzt. Sie sagt auch gescheite Sätze, aber sie macht sowieso alles richtig. Sie hätte auch sagen können, dass sie Rockantenne hört und ich hätte sie trotzdem vergöttert. Aber dann will sie tanzen gehen und erst jetzt bemerke ich diesen irren Altersunterschied, ich könnte ihr Vater sein, sagt man doch so gerne. Diesmal stimmts wohl. Mit dem Unterschied, dass ich mit 13 noch keinen Sex hatte. Nicht mal ansatzweise, aber das ist eine ganz  andere Geschichte und um ein Haar erzähl ich sie ihr auch, aber so wahnsinnig bin ich dann auch wieder nicht. Ich wippe mit dem Cuba Libre in der Hand und weiß natürlich, dass sie tanzen will. Also mache ich mich rar, verschwinde wieder, sie soll ihre Jugend nicht an mir verschwenden und verknallt bin ich sowieso schon also flieg, süßer Vogel Jugend.
Ich renne aufs Klo und treff dort jemanden, der viel wahnsinniger ist als ich es jemals war und kriege einen Lachanfall, weil er im Klo sitzt und auf seinen Kumpel wartet. Ich lache gar nicht deshalb, weil er auf dem Klo sitzt, sondern weil er es ist und ich verknallt bin und sowieso alles witzig finde. Er sagt, er wartet auf sein Geheimtreffen und tut furchtbar geheimnisvoll, dabei wollen sie nur einen durchrauchen und ich schrei Yeah! Und kündige an, heute alle Dummheiten mitzumachen, einfach weil Samstag ist und das Leben zu schön, als es zu zerdenken. Der Kumpel kommt, wir sitzen auf einer Couch und er schreit noch, ob ich morgen kündige und ich inhaliere und denke, ist doch scheißegal. Im nächsten Moment werde ich hysterisch, weil ich begreife, dass wir uns in einer Höhle befinden und ich rechne damit, dass jeden Moment der Fels einstürzt und uns alle bei lebendigem Leib zermalmt. Wasser tropft von der Decke und ich ducke mich, zum Glück, es ist nichts passiert. An der Bar steht die Wunderschöne und ich stelle mich zu ihr ohne was zu sagen. Das ist peinlich, aber konsequent. Sie fragt, ob wir jetzt noch was zu trinken bestellen und ich sag na Klar, aber da ist längst schon alles verloren. Da hat sie schon begriffen, wie atemberaubend sie ist und ich hau lieber ab, bevor sie es mich spüren lässt. 
Will die eine, wolln sie alle und mein großes Herz steht auf einmal vor mir und ich falle ihr um den Hals und lache sie aus, lache weil sie nicht mehr meine größte Liebe ist und amüsiere mich köstlich, dass ich mich von nun an gar nicht mehr für sie interessiere, aber sie hat keine Ahnung, die Lustige. Ich quatsche sie voll und erzähle ihr von meiner Lebenstheorie und kann ihr endlich unverblümt sagen, was ich denke und was mich halb wahnsinnig macht. Ich sag ihr, dass ich so eine seelische Sehnsucht spüre, so eine Art erotisches Heimweh und sie hält mich für verrückt, macht aber den Spaß mit und ich verwechsle total, welche Rolle ich ihr gegenüber spielen soll, hab keine Ahnung, ob ich ihr Kumpel bin, oder ihr Verliebter und weil ich sowieso ein Rollenidentätsproblem habe, stimme ich ihr zu, dass die A. dicke Tüten hat, verrate aber nicht, ob ich das jetzt toll oder nicht toll finde.
Aus den Augenwinkeln sehe ich eh die Bezaubernde, die sich auf ein Sofa gesetzt hat und gelangweilt so tut, als habe sie nichts zu tun und sie denkt wohl, ich merk das nicht und tu so, als sei ich furchtbar beschäftigt und quatsche mit der Nummer Zwei weiter und rede mich um Kopf und Kragen, bis sie mich total zu hassen beginnt und mir ins Gesicht knallt, wie sehr sie ihren Freund liebt, die alte Schlampe.
Halb verrückt vor Eifersucht haue ich ab, ohne mich von irgendeinem dieser beknackten Fabelwesen zu verabschieden. Was stellen sie denn schon dar mit ihrer Vollkommenheit und ihrem scheißverdammten Charme und ihrer irrwitzigen Schönheit? Nichts! Nicht mal in Ruhe unterhalten kann man sich mit denen, ohne dass man sich selber wie ein ungebildeter Idiot vorkommt. Ich habe genug gesehen und stürze mich hinaus in den Schnee, schmeiße mich in den Kanal und hoffe zu ertrinken, aber es ist zu wenig Wasser drin. Der Mond knallt aggressiv herunter und ich kann das im Moment überhaupt nicht haben, so fuck you moon! Schreie ich und renne nach Hause, als ob das noch irgendwas ändern würde.