Mittwoch, 5. Juli 2017

Von Stränden und Inseln

Ich hab zwar nichts von Tiefschlägen und Sternstunden im Literaturbetrieb zu erzählen, aber dafür mal wieder eine Kurzgeschichte dabei, die ich heute wieder gefunden habe als ich eigentlich Dissertation schreiben sollte. Die Geschichte ist schon ein bisschen älter, aber ich dachte mir, ich stelle sie einfach mal zur Diskussion. Also Feuer frei und Rotstift raus. Ich hab erst mal nur den ersten Teil reingestellt, weil das Ganze sonst arg lang geworden wäre. Der Rest folgt.


Teil 1: Milchblau
6 Tage Korsika. Wir gehen den Strand entlang, Füße im Meer. Da sind Jesper und ich, Clara und Ida. Clara hat dunkle, taumelnde Locken und sieht aus wie jemand, der bei guten Filmen an den falschen Stellen lacht und bei schlechten sofort einschläft. Ich schaue über das Wasser. Manchmal denke ich, es müsste irgendwas geben, da hinten am Horizont, etwas, das die Schatten auffängt, die die Menschen werfen und dann aufs offene Meer raus treiben lassen. Sowas wie einen Gott. Es ist seltsam, dass das Meer hier jeden Tag eine andere Farbe hat. Es wäre leichter, wenn es einfach immer gleich wäre, wie nachts, wenn es in der Dämmerung milchblau wird und bleibt bis es wieder hell ist. Aber tags wechselt es ständig zwischen hellgrün und türkis und tiefblau und grau.
Vor ein paar Wochen habe ich im Hafen von Nizza einen alten Fischer getroffen, draußen auf der Kaimauer, da wo man eigentlich nicht hinkommt außer man balanciert die Mauer bis zum Ende und klettert über die Absperrung. Dann kann man fast bis zum Leuchtturm laufen. Es war einer dieser Fischer, die wahrscheinlich schon immer Fischer waren und wenn sie einen Köder an den kleinen Widerhaken spießen ist das das Normalste auf der Welt, aber wenn man sie ohne das alles auf der Straße wiedertrifft, erkennt man sie nicht.
Er bemerkte mich und sagte etwas auf Französisch, das ich beim ersten Mal nicht verstand. Er sprach sehr leise und irgendwie zerrissen, er bog die Worte so, als würden ihre Silben gar nicht zusammengehören oder als müsste er sich noch entscheiden, ob es nicht doch ein anderes, besseres Wort gibt. So wie alte Leute das ständig machen, mitten im Satz innehalten, vielleicht, weil sie die Worte schon zu oft benutzt haben. Er sah mich nicht an beim Sprechen. Seine Stimme war unaufgeregt und rau. Er sagte: „Es gibt ein altes Sprichwort unter Fischern. Es heißt: Das Meer vergibt dir alles, wenn du nur lange genug ins Blau schaust.“ Danach sagte er nichts mehr. Ich schaute ihn von der Seite an und er blickte weiter geradeaus aufs Meer hinaus und ich wusste, dass er sowas nicht sagt, weil es gut klingt, sondern weil er daran glaubt. Er hatte eine Narbe quer über die linke Wange, die fast sein Auge berührte und grobe, stark zerfurchte Hände mit denen er die Angel hielt.
Die anderen schlafen noch. Unser Ferienhaus liegt so hoch, dass man von oben über die Umgebung schaut: die schmale Küstenstraße, bei der an beiden Rändern der Asphalt abbröckelt, der Streifen Pinienwald und dahinter das Meer, auf dem morgens noch ein Dunst liegt, den die Nacht da regelmäßig vergisst. Ich gehe runter Richtung Strand, ziehe meine Schuhe aus und laufe barfuß weiter. Es riecht genauso, wie es früher immer im Italien roch, als wir auf dem Weg zum Meer mit verrosteten Fahrrädern durch die Wälder fuhren. Und je weiter wir fuhren, desto sandiger wurde der Boden und irgendwann war da nur noch Sand und kaum mehr Bäume, wir blieben stecken und fielen lachend um und noch im Fallen hörten wir das erste Rauschen der Wellen, die plötzlich ganz nah waren. Wenn man sich an etwas erinnert, das lange vorbei ist, ist das immer ein bisschen als würde man einen Stummfilm anschauen, und wenn man Glück hat, weiß man noch, in welchem Winkel das Licht fiel, welche Farbe der Himmel an dem Tag hatte und ob der Sand abends noch warm war unter den Füßen.
Ich suche Muscheln im nassen Sand, die faustgroßen mit Einsiedlerkrebsen, die längst ausgezogen sind, wenn man sie findet. Ich frage mich, was mit den Krebsen passiert, wenn sie ihre Häuser zurücklassen.
Es gibt Mädchen, denen man nicht entkommt. Wenn man sie das erste Mal sieht, kann man tagelang nur noch daran denken, wie ihre Haare wohl riechen, wenn man neben ihnen aufwacht.
Es ist noch ganz früh, halb sieben, vielleicht früher. Als ich durch den Wald am Strand ankomme, kann ich sehen, dass da zwei sitzen, ganz nah am Wasser, die weiße Gischt an ihren Knöcheln. Ich hinter den beiden vorbei, setze mich hundert Meter weiter auf ein Stück Treibholz und schaue übers Meer. Die Ebbe treibt kleine Wellen an den Strand. Ich denke an Claras Augen, die irgendwie heller sind als alle anderen, so als würden sie von sich aus leuchten. In meinem Kopf ist Clara eins dieser Mädchen, die einen nie küssen, aber wenn sie es doch tun, fühlt es sich an, als könnte man endlich aufhören zu warten, weil man ab jetzt nichts mehr verpasst.
Jesper und ich waren gestern Abend noch im Meer, gleich nachdem wir angekommen waren. Er sagte, er hätte eine Wette gegen sich selbst abgeschlossen und jetzt müsste er in jeden See und jedes Meer springen, egal wie kalt, und dass er es nicht ertragen würde, gegen sich selbst eine Wette zu verlieren. Also gingen wir schwimmen, samt Kleidung. Wir standen bis über die Knie im Wasser, hatten unsere Hosen nach oben gekrempelt und das Wasser war unfassbar kalt. Wir sahen uns an und fingen an zu lachen, während wir uns umdrehten und zitternd zurück Richtung Strand liefen. Jesper und ich kannten uns davor noch kaum, aber sowas ändert sich verdammt schnell, wenn man gemeinsam bescheuerte Dinge tut.
Als ich zum Ferienhaus zurückkomme sitzen die drei gemeinsam auf der Terrasse und frühstücken und hören Bruce Springsteen. Nachmittags fahren wir zusammen an einen verlassenen Strand in einer kleinen Bucht, die wir beim Vorbeifahren von der Straße aus entdeckt haben. Ich laufe alleine ein Stück den Strand entlang und schwimme dann so weit raus, wie ich mich gerade noch traue und dann langsam wieder zurück.  Jesper winkt. Ich steige aus dem Wasser, gehe zu den anderen und lasse mich fallen, zurück in den Sand, der warm ist vom Tag. Die stillgelegten Vulkane im Rücken schließe ich die Augen zu und denke an Clara, die zwei Meter rechts von mir liegt, weil es so verdammt schwer ist, es zu lassen. Dann mache ich die Augen wieder auf, stütze mich auf die Ellbogen und schaue auf die Felsen vor der Küste, Sardiniens Skizze in der Entfernung, denke, wenn die Brandung nachlässt und ich genügend Luft übrighabe, schwimme ich rüber und warte, bis mich jemand suchen kommt. Jesper fragt, ob alles okay ist bei mir, weil ich so still bin, manchmal. Ich sage „klar, Mann, alles blendend“ und setze mich auf. Irgendwer hat mal zu mir gesagt: „solange du ehrlich zu dir selbst bist, kannst du die anderen ruhig anlügen“
Als ich mich umdrehe, sehe ich Claras Locken im Profil, die ihr ins Gesicht wehen, und für einen Moment bin ich froh, dass sie ihr Lächeln verdecken, weil ich mich wie ein kleiner dummer Junge darin fühle. Sie dreht sich zu mir. Ich lächle. Wir reden. Clara sagt, sie habe Probleme mit Entscheidungen, aber ich glaube, sie meint Anfänge. Und im Grunde sind wir uns ähnlich, weil ich immer alles will und am Ende nichts bleibt, wofür ich mich entscheiden kann. Ich grabe meine Füße in den Sand und erzähle ihr Geschichten aus meiner Jugend, die allesamt erfunden sind. Ihre Augen sind weit weg, wenn ich spreche und meine Sätze voller Schwindel und reißen irgendwann einfach ab. Sie schaut mich verwirrt an, dann zuckt sie mit den Schultern und dreht sich zu Ida.
Ich setze meine Sonnenbrille wieder auf, obwohl die Sonne jetzt fast weg ist, und höre Otis Redding. Ich habe stundenlang mit Jesper geredet, gestern Abend. Über Liebe und warum nie etwas hält, egal wie sehr man es versucht. Er sagt, obwohl er mich erst einen Tag kennt, glaube er, ich würde vielleicht immer mutige Sachen anfangen, weil er bescheuert nicht sagen will und weiß, dass die Wahrheit vergleichsweise egal ist. Ich friere. Der Wind fährt über den Sand in meine Augen, der Himmel sieht aus, als hätte Gott dreckige Wolkenreste zusammengekehrt. Jesper sagt, man müsste sich öfter sicher sein im Leben, dann gäbe es weniger Geheule im Nachhinein.
Wir fahren alle zusammen mit dem Mietwagen ins Landesinnere, das heißt ich fahre und der Rest hat Todesangst, weil ich in Kurven gerne die Gegenspur mitbenutze. Im Radio läuft irgendwas von Coldplay und immer wenn der Refrain einsetzt, singt Jesper ein paar Zeilen mit. Die Straße läuft in engen Schleifen das Gebirge hinauf und wir reden über existentielle Sachen wie Sternzeichen. Clara sagt, sie habe gelesen, dass Skorpione entweder mit anderen Skorpionen können oder mit Krebsen, weil Krebse viel zu nett sind, um scheiße zu sein. Clara lacht etwas zu schrill und wenn wir uns anschauen, dann nur ganz kurz, weil meine Blicke jedes Mal nie standhalten. Ida sitzt neben Clara auf der Rückbank und hält Vorträge über die Gefahren von Gebirgsstraßen und zählt Statistiken zu den häufigsten Todesursachen im Straßenverkehr auf. Ida ist ziemlich schlecht darin, zu verstecken, dass sie unheimliche Angst hat, aber zwischendurch lächelt sie tapfer. Jesper und ich sind uns sicher, dass sie die Statistiken alle erfunden hat, aber wir sind uns auch einig, dass man ihr das in diesem Zustand auf gar keinen Fall sagen kann. Irgendwann wird es still. Draußen beginnt es zu dämmern und plötzlich schüttet es von einer Sekunde auf die nächste wie aus Eimern. Blitze in der Ferne, die Scheibenwischer, die kaum noch funktionieren und die Straße, die immer schmäler wird. Jesper neben mir strahlt abenteuerlustig und sagt „Umkehren is nicht, wir sind voll auf Kurs“, packt eine Wanderkarte von 1973 aus dem Handschuhfach, murmelt willkürlich Namen von Gebirgspässen vor sich hin und tut so, als hätten wir uns nicht seit eineinhalb Stunden gnadenlos verfahren. Clara schweigt die meiste Zeit, hält dabei heimlich Idas Hand und liest einen Korsika Reiseführer. Als sie einmal kurz aufschaut, sagt sie, an der Westküste gebe es diese roten Felsen, so rot, das sähe fast schon unnatürlich aus, die müsste man unbedingt gesehen haben, das sei einer dieser Marco-Polo-Insider-Tipps. Ich schaue in den Rückspiegel, wir sehen uns an, dann schaue ich schnell wieder nach vorne auf die Fahrbahn und sage nichts außer „Schade“, weil unser Ferienhaus an der Ostküste liegt und heute unser letzter Tag ist.

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